Alles ist relativ

Ich nehme alles zurück, was ich jemals über die Straßen von Albanien, Moldawien, Rumänien, Bulgarien etc. geäußert habe. Das sind alles hochmoderne und akkurat gewartete Fahrbahnen verglichen mit der Straße zwischen Atyrau und Aktöbe in Kasachstan. Statt die Strecke von ca. 1000 km über die Hauptstraßen zu fahren, haben wir uns entschieden, eine direkte Verbindung quer durch die Steppe von 500 km zu nehmen. Da wussten wir noch nicht, was es in Kasachstan bedeutet, wenn man eine Nebenstrecke befährt. Irgendjemand hat uns vor der Reise erzählt, dass die Kasachen teilweise neben der Strecke in der Steppe fahren, weil der Fahrbahnbelag so schlecht ist. Jetzt wissen wir, wie es ist, eine Teiletappe von 240 km größtenteils neben der Straße und am Limit des gerade noch Möglichen zu fahren. Fahrer von Allradfahrzeugen hätten hier einen Heidenspaß. Von Schlammdurchfahrten bis zu Kletterpartien ist alles dabei. Wir hingegen leben in der ständigen Angst, ob wir überhaupt durchkommen.

     

Da die Fahrbahn tatsächlich Schlaglöcher aufweist, in denen man ganze Kleinwagen versenken kann, wird auf dem Schotterbankett neben dem Asphalt gefahren. Ist auch das unbefahrbar, entstehen wilde Pisten neben der Straße. Diese sind jedoch durch feuchtere Zeiten teilweise stark ausgewaschen und wellig. Der getrocknete Schlamm ist bretthart. Für die Strecke von Atyrau nach Aktöbe haben wir etwas mehr als drei Tage benötigt, zwei Tage allein für das Teilstück von 240 km neben der Straße. Dabei sind wir von Licht an bis Licht aus fast durchgehend gefahren.

     

Wir sind mitten drin im Camel-Trophy-Abenteuer, doch in mir steckt ein zu großer Anteil eines Sesselpupers, dass ich Gefallen daran finde, unser Auto in sengender Mittagshitze aus dem Sand zu buddeln. Es ist alles so, wie man es in Filmen und Dokumentationen bewundern kann, nur dass die Mückenstiche wirklich jucken, der Schweiß und Staub tatsächlich den gesamten Körper verkleben und die Befürchtungen und Ängste echt sind. Ich weiß nicht mehr, wie häufig ich in den letzten Tagen laut ausgerufen haben: „Ich will nach Hause!“

 

Erstaunlich ist, was alles über diese vorsintflutlichen Pisten donnert. Hauptsächlich sehen wir LKWs, denen man zum Teil eine derartige Geländetauglichkeit nicht zugetraut hätte. Doch neben SUVs, die hier ausnahmsweise am richtigen Platz sind, sind auch normale PKWs unterwegs.

     

Mittendrin in diesem Infrastrukturchaos treffen wir auf einen noch Bekloppteren als uns. Roland aus Ungarn ist auf einer Hardtail-Custom-Harley unterwegs nach Kirgisien. „Hardtail“ bedeutet: hinten weder Federung noch Dämpfung. Das einzige, was seinen Allerwertesten vor Stößen von der Straße schützt, sind zwei kleine Federn unterm Sattel. Sein Tank fasst 8 Liter Benzin, und in einer Plastikflasche führt er 2,5 Liter Reserve mit. Damit kommt er etwas weiter als 200 km. Neben einem Zelt, einem Schlafsack und ein wenig Werkzeug führt er noch 1,5 Liter Trinkwasser mit. Das war’s. Mehr passt nicht auf den Hobel. Wir verbringen eine Nacht zusammen in der Steppe und erfahren, dass er eigentlich Architekt ist, jedoch jetzt Custom-Bikes zusammenschraubt und für eine Motorradzeitschrift schreibt. Sein Englisch ist hervorragend. Jedes Jahr ist er für zwei Monate mit dem Motorrad unterwegs. Am nächsten Morgen trennen sich wieder unsere Wege. Er ist auf zwei Rädern deutlich schneller unterwegs als wir auf sechs.

     

Eine echte Belohnung für die ganzen Strapazen sind die Steppenadler, die man in dem dünn besiedelten Gebiet ständig sichten kann. Sie hocken regelrecht neben der Piste und erheben im Vorbeifahren die Flügel, als ob sie uns mitteilen wollten: Seht ihr, es lohnt sich doch hier langzufahren.

   

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